Das Vergaberecht hat das Sozialrecht erreicht. So viel scheint sicher. Die Vergabe von Leistungen der Jugendhilfe, der Altenpflege, der Rettungsdienste oder der Schuldnerberatung wird ebenso als ausschreibungspflichtiger „öffentlicher Auftrag“ diskutiert wie die Beschaffung von Heil- und Hilfsmitteln, der Abschluss von Arzneimittel-Rabattverträgen oder die Beauftragung Privater mit Maßnahmen der Berufsförderung oder der Eingliederungshilfe einschließlich der in Werkstätten für behinderte Menschen. In welchem Umfang in den einzelnen Bereichen des Sozialrechts Vergaberecht Anwendung finden darf oder muss, wird aber sowohl im Grundsätzlichen als auch im Detail unterschiedlich beantwortet.
Die Anzahl von juristischen Fachpublikationen zum Thema „Sozialvergaberecht“ ist groß und wächst ständig. Eine einhellige Meinung hat sich noch nicht gebildet. Die Beschlüsse des OVG Münster (Az.: 12 B 1390/04 und 12 B 1397/04) und des OLG Düsseldorf (Az.: VII Verg 35/04), alle aus September 2004, standen längere Zeit allein für den Bereich der Vereinbarungen nach dem BSHG bzw. nun nach dem SGB XII. Mehrere Entscheidungen ergingen zu Finanzierungskonzepten in der Jugendhilfe. Im Dezember 2007 hat das OLG Hamburg (Az.:1 Verg 4/07) entschieden, dass Verträge über die Durchführung von Schuldnerberatung, die auf der Grundlage von § 75 Abs. 3 SGB XII abgeschlossen wurden, unter das Vergaberecht fallen können: Die von der zuständigen Landesbehörde gewählte Vertragsgestaltung erfordere unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse des entschiedenen Falls eine Ausschreibung. Es wird also darauf ankommen, die vertragliche Risikoverteilung sehr sorgfältig zu überprüfen.
Hinzu kommt folgendes: Während im „Normalfall“ für Vergabestreitigkeiten die Vergabekammern und die Vergabesenate der Oberlandesgerichte zuständig sind, sollen für die so genannten „Sozialvergaben“ nach einer aktuellen Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 22. April 2008 (Az.: B 1 SF 1/08 R) künftig wohl ausschließlich (oder parallel?) die Sozialgerichte für die Nachprüfung zuständig sein. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird keine bedeutende Rolle mehr spielen, da auch für Streitigkeiten nach dem neuen SGB XII die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zuständig sind.
Die sozialen und die wirtschaftlichen Implikationen von Vergabestreitigkeiten im Sozialrecht werden sowohl für die Leistungserbringer als auch für die Kostenträger zu einem bedeutenden Aufgabenfeld. Es wird künftig wichtig sein zu erkennen, in welchem Bereich Ausschreibungspflichten in Betracht kommen, welche Voraussetzungen für ein Vergabeverfahren zu erfüllen sind, welche Chancen und welche Risiken in und mit einer Ausschreibung verbunden sein können und wie effektiver – auch einstweiliger – Rechtsschutz erlangt werden kann. Die Einrichtungen und Dienste, die bei der Vergabe von Aufträgen oft nicht oder nicht in gewünschtem Umfang zum Zuge kommen, bedürfen geschulter Vertretung.
Die materiellen Vergabevorschriften sind im GWB, in der VOL/A und im Sozialrecht in verschiedenen Sozialgesetzbüchern verstreut. Ihre Handhabe ist nicht allen geläufig, auch nicht den Behörden. Daraus können sich Ansatzpunkte für rechtliche Angriffe auf die Ausschreibungspraxis entwickeln. Die Vergabepraxis selbst ist auch ein Element, um den übergangenen Bewerber zu seinem Recht zu verhelfen. Von den Oberlandesgerichten wird in Vergabesachen eine zeitnahe und rasche Entscheidungspraxis gesetzlich verlangt und sie ist üblich. Vor den Sozialgerichten hingegen wird es mutmaßlich intensiver Auseinandersetzungen bedürfen, um zeitnah zu praktikablen und für alle auch zumutbaren Entscheidungen zu gelangen. Schließlich ist auch an eventuelle Neuausschreibungen oder Schadensersatzansprüche zu denken.
Das SGB setzt in seinen verschiedenen Büchern auf Wettbewerb bei der Erbringung von Sozialleistungen. Fraglich bleibt, ob das sozialrechtliche Wettbewerbsmodell vom vergaberechtlichen abgelöst oder ergänzt werden soll oder ob beide Materien voneinander getrennt bleiben sollen. Wesentlich ist aber, dass im Ergebnis Verfahrensgerechtigkeit realisiert werden kann. Dabei können wir unterstützend tätig sein, sowohl für die Einrichtungen und Dienste als auch für die Vereinigungen der Träger der Einrichtungen. Immerhin hat das OVG Münster in einem der Beschlüsse aus September 2004 auch den Rahmenvertragsparteien subjektive Rechte eingeräumt (Anspruch auf Vertragserfüllung).